Das gibt es selten: Die Trainer der Bundesliga demonstrierten Einigkeit. »Bayern München, wer sonst!« antworteten 15 der 18 hochbezahlten Männer auf den ebenso wackeligen wie begehrten Schleudersitzen vor der Saison 1985/86 auf die Frage nach dem kommenden Deutschen Meister. Der Titelverteidiger als Top-Favorit - weder neu noch originell und schon gar nicht aussagekräftig. Auch vor der Saison 1968/69 hatten die meisten Experten erneut auf Meister l. FC Nürnberg getippt. Am Ende passierte Einmaliges: Die Franken stiegen ab. Eins jedenfalls machte die Umfrage deutlich: Die Jagdsaison auf die Bayern war eröffnet. Keine Schonzeit für die »Bullen«. Wie schwer es sich als das von allen gnadenlos gehetzte Wild lebt, erfuhren die Münchner bereits am ersten Spieltag. Helmut Winklhofer, der einzige der drei Neuzugänge (neben Hartmann und Flick), der sich zu Saisonbeginn einen Platz in der Meisterelf erkämpft hatte, besiegelte mit einem herrlichen Eigentor aus 25 Metern die 0:l-Auftaktniederlage in der Krefelder Grotenburg.
In der Pause wechselte Trainer Udo Lattek den nervlich am Boden zerstörten Unglücksraben aus, »um unseren Torschützenkönig fürs nächste Spiel zu schonen«. Lattek nahm's mit Humor, so schien es zumindest. In München aber machte sich Hektik breit. Gleich nach dem ersten Spieltag mit dem Rücken zur Wand, kein schönes Gefühl. Und vielleicht dachte so mancher auch an die Statistik: Noch nie waren die Bayern nach einer Niederlage zu Saisonstart noch Meister geworden. Mühsam schleppten sie sich über die nächsten Wochen, gewannen auch die meisten Begegnungen, ohne an die Glanzform der Vorsaison anzuknüpfen. Und an der Spitze zog Werder Bremen seine Kreise, leicht und locker. Als die beiden Intimfeinde am vorletzten Vorrunden-Spieltag im Münchner Olympiastadion auseinanderprallten, knisterte und knarrte es im Gebälk. »Nicht auszudenken, wenn wir verlieren würden«, meinte Norbert Nachtweih vor dem Anpfiff. Auf fünf Punkte wäre der Abstand zu Tabellenführer Werder im Fall einer Niederlage angewachsen. Dieser Druck war zu groß für einige Bayern-Spieler - sie rasteten aus. Die Bilanz eines Spiels, das eine Schlacht war: rote Karte für Lothar Matthäus nach Revanchefoul an Bruno Pezzey, Adduktoren-Abriß bei Rudi Voller nach einem üblen Foul Klaus Augenthalers, weitere Tritte und Unbeherrschtheiten gegenüber Gegenspielern und Schiedsrichter. »Da sind wohl einige von uns über das Ziel hinausgeschossen«, bemerkte Dieter Hoeneß offen und ehrlich wie immer, während Werder-Präsident Dr. Franz Böhmert ganz einfach von einer »üblen Treterei« sprach. Dieter Hoeneß übrigens sorgte dafür, daß der Fußball an diesem 23. November 1985 nicht nur seine häßliche Fratze zeigte. Mit zwei Toren binnen 120 Sekunden sicherte er den Bayern nach der Pause die so dringend benötigten Punkte.
Wochen , ja monatelang beherrschten die Diskussionen um die »Schlacht von München« die Schlagzeilen. Klaus Augenthaler hatte sein Image als Buhmann der Bundesliga weg und durchlebte die schlimmsten Monate seines Lebens. Nach Morddrohungen gegen sich und seine Familie stand »Auges« Haus in Vaterstellen unter Polizeischutz, und auch auf dem Fußballplatz sahen viele in dem gemütlichen Ur-Bayern plötzlich den Klassenfeind Nummer eins. »Heute war ich das Freiwild«, stellte Augenthaler nicht nur nach dem 2:4 in Mönchengladbach fest. Mit drei Punkten Rückstand auf Werder gingen die Bayern in die Rückrunde. Und am 8. März 1986 schien dann endgültig alles verloren. An diesem bitter kalten Samstagnachmittag wurden die Bayern von der abstiegsgefährdeten Düsseldorfer Fortuna eiskalt erwischt. 0:3 hieß es nach 50 Minuten; Augenthaler hatte sich einen Muskelfaserriß zugezogen, Torhüter Raimond Aumann die Bänder im Knie zerfetzt. In einer dramatischen Aufholjagd erzielten die Münchner noch zwei Treffer, zum Ausgleich reichte es nicht mehr.
»Das war's wohl.« Sören Lerby, der dänische Star beim Meister, stierte nach der Partie in seine leere Kaffeetasse und ließ der Enttäuschung freien Lauf. Den Worten Udo Latteks (»Wir können es immer noch schaffen!«) schenkte er nun keinen Glauben mehr. In diesen Minuten der zerstörten Hoffnungen und Träume fiel die Entscheidung Lerbys für den AS Monaco und gegen die Bayern... Auch Udo Lattek selbst hatte den Meistertitel in diesen Tagen abgeschrieben. Doch das konnte er der Mannschaft schlecht ins Gesicht sagen. Also stellte er sich hin und verteilte Durchhalteparolen: »Selbst wenn wir am vorletzten Spieltag mit vier Punkten Rückstand nach Bremen fahren, können wir's noch packen.« Und Manager Uli Hoeneß trat an seine Seite und erklärte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit: »Wer in Bremen gewinnt, wird Meister.« Die hohe Schule der Psychologie. Denn wie gesagt: An die Meisterschaft glaubte in Wirklichkeit keiner mehr im Bayern-Lager. Spieltag um Spieltag rannten die Bayern nun einem Phantom namens Werder Bremen nach, das da irgendwo im sicheren Drei-, Vier- oder gar Fünf-Punkte-Abstand über ihnen schwebte. Woche für Woche warteten sie auf einen Ausrutscher der hell auf die Bundesliga hinunterstrahlenden Nordlichter. Eine ebenso verzweifelte wie aussichtslose Jagd. »Das ist ja nervenzerfetzend«, meinte Michael Rum-menigge, als es wieder einmal galt, einen Sieg der Bremer mit einem eigenen Erfolg wettzumachen. Es schien nichts mehr zu nützen, daß sich das Sturm-Trio Dieter Hoeneß - Wohlfarth - Rummenigge nach total verkorkster Hinrunde in eine Superform hineinspielte, daß Norbert Eder einen Mittelstürmer nach dem anderen kaltstellte und Jean-Marie Pfaff seinen Anspruch als »bester Torhüter der Welt« fast erfüllte. Der 12. April 1986. Der Tag, als die Hoffnung wiederkam. Franz Raschid, lange verletzter Uerdinger Stürmer, schoß das »Tor des Tages« zum 1:0 der Bayern-Elf gegen den Spitzenreiter. Ein aufgeputschter FC Bayern nahm am nächsten Tag die Hürde »Borussia Dortmund« spielerisch leicht mit 3:0.
Verrückter Fußball. Nun war's tatsächlich soweit gekommen: Am 22. April stieg im Bremer Weserstadion ein echtes »Endspiel« um die Deutsche Meisterschaft. Bremen gegen Bayern, das bedeutete nicht nur Erster gegen Zweiter, Nord gegen Süd. Bremen gegen Bayern, das hieß auch Kampf der Systeme. Auf der einen Seite Werder, das sich so gern als volksverbunden, offen, bieder, als Verein der einfachen Leute gibt. Auf der anderen Seite die bösen Bayern-Buben, der reiche Nobelklub, die »Millionaros«, die Kapitalisten der Liga, von den Fußball-Fans im Lande als arrogant und aufgeblasen, als großkotzig und protzig eingestuft. Gezielt rief Werder-Manager Willi Lemke die Erinnerungen an das Münchner Vorspiel wach. »Rache für Rudi«, forderten daraufhin die Bremer Anhänger, und die Wogen der Erregung schlugen hoch. Eine Atmosphäre atemberaubender Schwüle lag über dem Weserstadion, als die Bayern eine Stunde vor Spielbeginn den Platz zum Aufwärmen betraten. Die blassen Gesichter wirkten noch eine Spur bleicher als sonst, die angespannten Mienen noch einen Hauch verkniffener.
Man konnte sie mit Händen greifen, die Spannung. Dann das Spiel. 88 Minuten lang ein offener Schlagabtausch, 0:0. Kutzops Elfmeter. Ein paar Zentimeter entschieden über Himmel oder Hölle. Die Bayern im Himmel. »Es gibt doch noch eine Gerechtigkeit«, sagte Lothar Matthäus nach dem Schlußpfiff. »Nicht auszudenken, wenn durch so einen Mist die Arbeit einer ganzen Saison zunichte gemacht worden wäre.« So aber brachte erst der allerletzte Spieltag die Entscheidung mit VfB - Werder und Bayern - Mönchen-gladbach. Die Münchner mußten ihre Begegnung gewinnen und gleichzeitig auf einen Stuttgarter Sieg gegen Bremen hoffen. Nach den letzten 90 von 3060 langen Saison-Minuten war der große Coup perfekt, die neunte Deutsche Meisterschaft unter Dach und Fach. Sensationell - am 34. Spieltag hatten die Bayern erstmals den Sprung ganz nach vorne, an die Tabellenspitze geschafft. Auf der Tartanbahn des Olympiastadions spielten sich unbeschreibliche Freudenszenen ab. Udo Lattek und Uli Hoeneß lagen sich in den Armen, während die Spieler auf einer Ehrenrunde die naßgeschwitzten Trikots ins siegestrunkene Publikum warfen. »Das ist die schönste Meisterschaft«, grölte Dieter Hoeneß, »die schönste, weil noch vor Wochen keiner daran geglaubt hat!« Erst als die Moet-Chandon-Champagner-Korken in der Kabine knallten und sich die Pappbecher wechselweise füllten und leerten, wanderte so mancher Gedanke ins Neckarstadion, wo die Bremer in der Stunde des Münchner Triumphs mit ihrer grenzenlosen Enttäuschung fertig werden mußten. »Die tun mir leid«, zeigte Roland Wohlfarth Mitgefühl und Sympathie, doch Michael Rummenigge wischte die grüblerischen Anflüge sofort vom Tisch: »Ach was«, meinte er, »die sind doch selbst schuld. Die haben einfach keine Nerven.« Ein wahres Wort. Die bayerischen Nerven, so dick wie Drahtseile, hatten letztlich eine dramatische Meisterschaft entschieden. Und die Münchner jubelten: »Mia san mia, stärker wia die Stier!«
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